Staring Girl „EP“ (VÖ: 06.12.2019 – Kombüse / Broken Silence)

Love In/Love Out

Es gibt diese Bands. Einerseits versteht man nicht, warum sie es bislang nicht auf die ganz großen Bühnen geschafft haben, andererseits möchte man das gar nicht. Nicht weil man das, was diese Bands da spielen, nicht ausstehen könnte, im Gegenteil: Man möchte dieses Kleinod an Außergewöhnlichkeit ganz für sich alleine haben. Unteilbar. Einer tragischen Liebe gleich, die nie öffentlich werden darf, soll sie nicht ihren Glanz verlieren. Staring Girl ist so eine Band. Obwohl sie bereits vor einigen Jahren fast schon gewaltvoll in die erste Reihe gezerrt wurde – als Gisbert zu Knyphausen einen Song von ihr in der Online-Show TV Noir coverte –, weigert sie sich nach wie vor beharrlich, den ihr zugewiesenen Platz einzunehmen.

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Erst im vergangenen Jahr erschien mit „In einem Bild“ das zweite Album von Staring Girl. Sechs Jahre und mehrere Bandumbesetzungen nach dem Debüt-Album „Sieben Stunden und vierzig Minuten“. Zeit war dann auch das zentrale Thema des Albums von 2018, auf dem Sänger und Songschreiber Steffen Nibbe über Vergehen und Vergänglichkeit sinnierte. Umso erstaunlicher, dass  mit „EP“ bereits schon jetzt ein neues Werk vorliegt. Und noch erstaunlicher, dass das Überthema hier – ja, man mag es kaum glauben – die Liebe ist.

Mal ist die Liebe da, mal ist sie weg. Dass es Nibbe gelingt, diesem banalen Pop-Thema, das immer wieder aus allen Ecken und Enden aufs Neue besungen wird, neue herzzereißende oder wahlweise herzerwärmende Bilder in trockener, fast schon beiläufiger Sprache abzuwringen, zeugt von dessen großartigem Prosa-Talent. Musikalisch unterstützt wird er dabei kongenial von Gunnar Ennen, Jens Fricke, Frenzy Suhr und Robert Weitkamp, einer Band, die offensichtlich mehr als nur gut eingespielt ist. In gerade einmal zwei Tagen wurden die sechs Stücke der „EP“ live aufgenommen.
Multiinstrumentalist Gunnar Ennen, der bei Staring Girl mal das Wurlitzer, mal die Gitarre, mal die Lapsteel spielt, übernahm dann zusätzlich auch noch den Mix.

Diese Herangehensweise, die Art der Aufnahmen, des Sounds und des Zusammenspiels mögen altmodisch und kauzig wirken – oder eben im besten Sinne komplett aus der Zeit gefallen. Und Zeit ist indirekt auch auf „EP“ wieder ein Thema. Denn fünf der sechs Stücke sind ältere Staring Girl- Songs. Allerdings frisch eingekleidet. Dass diese Kleidung nicht nur willkürlich übergestülpt ist, sondern offenbar jedes Detail liebevoll selbst genäht wurde, ist ersichtlich.

Fast schon mystisch beginnt „Die guten Gedanken“ mit einem lyrischen Appell: abwarten, nichts überstürzen, einfach mal den Kopf stillhalten. Nur dann könnte eventuell die Liebe zurückkommen. Countryesk geht es auf „Viertel vor nichts“ weiter. „Was für Geräusche macht ein gebrochenes Herz“, fragt Nibbe, um kurz darauf das Selbstmitleid mit der Zeile „lern endlich schwimmen und nimm’s doch nicht so schwer“ motiviert hinwegzuschubsen. Die Einsamkeitshymne „Cornflakes mit Milch“ wartet mit einem Glockenspiel auf, das an Ennio Morricones „Once Upon A Time In The West“ erinnert. Dabei streichelt das federleichte Schlagzeug die dann doch nicht ganz so erbauliche Stimmung des Erzählers. Das einzig komplett neue Stück der EP, „Autos  fahren auf Straßen mit Namen“, sendet schließlich ein kleines „Fuck You“ an den Trauermodus. Der heftige Totalausbruch mit David-Gilmour-Gitarrensolo-Anleihe fegt die rosarote Brille entschieden von der Nase. Apropos Solo: Dass eine deutschsprachige Band so unverkrampft, unpeinlich und geschmackvoll auf Gitarrensoli setzt, ist mindestens bemerkenswert. Auch der Staring Girl-Klassiker schlechthin „Jeder geht allein“ unterstreicht mit einem zarten Solo die adoleszente Liebesbeschreibung. Trotz der Ich- Bin-Wieder-Allein-Thematik bleibt der Hörer glücklich-melancholisch berührt. Zum Abschluss der EP, in „Auf dem Weg zu mir nach Haus“, glänzt am Ende schließlich wieder der Tag. Nibbe findet schlichte Worte für ein sich überwältigendes, einschleichendes Gefühl, das wir getrost Liebe nennen dürfen.

Mit der zurückhaltend betitelten „EP“ finden Staring Girl eine musikalische Love In/Love Out-Form, die gewaltig ist, ohne aufdringlich zu sein. Die große Emotionen thematisiert, ohne sie anzusprechen. Gleichzeitig gelingt ihnen der Spagat zwischen Retrospektive und Ausblick. Jenseits von musikalischen Trends haben sich Staring Girl über die Jahre unbeirrt weiterentwickelt und mittlerweile einen vollendeten Band-Sound gefunden, der hierzulande  einzigartig ist.

Mit der „EP“ dürfte die tragische Liebe der bisherigen Staring Girl-Fans zu „ihrer“ Band weiter verstärkt werden. Ob die Band damit nun die großen Bühnen erklimmt, ist ihr wahrscheinlich selbst furchtbar egal.

Christoph Kohlhöfer

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